Überall große Gefühle. In Filmen und Büchern, in Netzwerken und in der Werbung, auf Partys und Demonstrationen, in Parteien und in der Kirche, in Beziehungen oder in der Vorstellung von ihnen. Unsere Zeit schätzt die Emotion, das Empfinden und die Empfindsamkeit sehr hoch und lehnt das allzu Rationale, Verkopfte und Komplizierte ab.


Mit der einseitigen Betonung des Gefühls und der Empfindsamkeit geht aber auch eine niedrige Schwelle des Empörtseins und Verletztseins einher. Und die hat Folgen für unsere Beziehungsfähigkeit.


Jesus wird gefragt, was das Wichtigste im Leben sei. Als Antwort zitiert er zwei Stellen aus dem Alten Testament: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit deinem ganzen Denken.“ Und „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“


Allerdings gibt es bei dem Gebot der Gottesliebe eine kleine Änderung: Im zitierten Buch Deuteronomium wird gesagt, Gott solle „mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft“ geliebt werden. Im Evangelium steht da statt „mit ganzer Kraft (dynamis)“ „mit deinem ganzen Denken (dianoia)“.


Diese kleine Änderung ist von großer Bedeutung. Offenbar sollen wir nicht nur herzlich und innerlich, gemütvoll und leidenschaftlich, sondern auch denkend lieben.


Es hat in der Geschichte der Kirche immer wieder Bewegungen und theologische Schulen gegeben, in denen das Denken gegen das Fühlen ausgespielt und ein irrationales und gefühlsorientiertes Glauben und Lieben propagiert wurde. Die Kirche hat sich dagegen immer gewehrt. Glaube und Liebe brauchen beides: Herz und Verstand, Empfindung und Vernunft.


Zur Liebe gehört auch, sich lieben zu lassen und sich ergreifen zu lassen von einer Dynamik, die unser Verstehen und Begreifen letztlich übersteigt. Aber dennoch ist es wichtig, dass wir die Dynamik selbst verstehen und erkennen, wohin sie uns führt. Was mitreißend ist, ist noch lange nicht gut.


Thomas von Aquin sagt, alle Sünde komme aus der „ungeordneten“ Liebe zu sich selbst. Liebe kann also in der Tat Sünde sein, wenn sie in die falsche Richtung mitgerissen wird.


Mich hat diese Woche die Frage beschäftigt, was das für mich heißt: „mit meinem ganzen Denken lieben“.


Gott lieben bedeutet zugleich Jesus Christus lieben, in dem er sich uns als Mensch offenbart – und dann auch meine Nächsten, die er nicht ohne mich lieben will. Gott in Jesus „denkend lieben“ heißt für mich:


1. An Jesus denken. Nach ihm fragen: nach seinem Ergehen und seinen Wegen, nach seinen Absichten und seinem Willen. In den Erzählungen aus seinem irdischen Leben, aber auch als unsichtbar Gegenwärtigem in dieser meiner Stunde. In allem ihm denkend verbunden sein.


2. Von Jesus Christus gut denken. Für ihn auch im Krisen- und Verdachtsfall die Unschuldsvermutung gelten lassen und zunächst das Gute annehmen. Seine Aussage im Zweifelsfall zu retten und vom Besten ausgehen, das er gemeint haben könnte (Ignatius von Loyola).


3. Bedenken, was Gott (in der Heiligen Schrift, in Jesus, in seinen Zeugen) gesagt hat und noch sagt. Seine Worte „im Herzen bewegen“, sie mir einprägen, sie immer tiefer verstehen und in meinem Leben wirksam werden lassen. Die Engländer haben dafür das schöne Wort „to ponder“.


4. Mit Christus mitdenken. Sein Denken kennen und verstehen lernen. Mit seinen Gedankengängen vertraut werden und sie mitvollziehen – besonders sein Denken vom Menschen.


Wenn wir Gott in Jesus Christus so „denkend lieben“, beginnt eine Veränderung:


Wir werden souveräner im Umgang mit unseren Gefühlen, die wir besser verstehen und die weniger Macht über uns haben.


Wir werden mitgenommen in eine Intimität mit Gott und eine Bewegung in ein erfülltes Leben mit den Anderen, die unser Verstehen übersteigen.


Und wir beginnen von unseren Nächsten anders zu denken. Auch da, wo unser Gefühl vielleicht zunächst zurückweicht oder zögert. Nüchterner und zugleich liebender.


Fra' Georg Lengerke