Das Thema der heutigen Episiode ist: »Scheitern an komplexen Problemen? Wissenschaft, Sprache und Gesellschaft«


Covid, Klimawandel, Energiewende oder geopolitische Krisen sind komplexe Herausforderungen.  Herausforderungen, in denen sich verschiedene wissenschaftliche Erkenntnisse mit politischen und gesellschaftlichen Interessen überschneiden. Unterschiedliche Meinungen, und damit Konflikt ist geradezu eine natürliche Folge solcher Probleme.


Und immer öfter scheinen wir an diesen Herausforderungen zu scheitern, und nicht nur das: wir Polarisieren dabei zunehmend unsere Gesellschaft, drohen liberale und demokratische Werte zu gefährden und beschädigen Wissenschaft und Politik auf dem Weg.


So erleben wir auch eine Renaissance von Paternalismus und Autoritarismus — und dies nicht unbedingt von der politischen Seite, von der es von vielen erwartet wurde. Wollen wir die Entscheidung über wesentliche gesellschaftliche Entscheidungen wenigen Auserwählten überlassen oder doch eine breite und informierte gesellschaftlichen Legitimierung anstreben?


Stecken wir fest? Was geschieht, gerade und welche Rolle spielt Sprache und Diskurs?


Diese Folge jongliert mit einer Reihe von politisch und gesellschaftlich heißen Themen und gerade darum freue ich mich sehr, dieses Gespräch mit Jan David Zimmermann führen zu können.


Jan ist Autor, Journalist und Wissenschaftsforscher, hat auch gerade ein neues und äußerst empfehlenswertes Buch herausgebracht.


Ich möchte nochmals betonen, daß wir Covid, Klimawandel  und andere Krisen ansprechen, aber es geht in keinem dieser Fälle darum, konkrete sachliche Fragen der Krisen zu diskutieren oder zu beurteilen. 


Vielmehr interessiert uns eine Meta-Frage: wie diskutieren wir aktuell und wie sollten wir derartig schwierige und komplexe Fragestellungen in der Gesellschaft diskutieren, wo schwerwiegende und langfristig wirksame Entscheidungen unserer Ansicht nach demokratisch legitimiert sein müssen.


Wir beziehen keine sachliche Position zu Covid- oder Klimawandel - Fragen, sondern diskutieren auf der Meta-Ebene, wie wir gesellschaftlich und wissenschaftlich mit diesen Themen umgehen, beziehungsweise umgegangen sind, und welche zum Teil erheblichen Fehler aus unserer Sicht hier gemacht wurden. Wie funktionieren — oder funktionieren eben nicht — wesentliche gesellschaftliche Diskurse

»Wissenschaft ist eine tolle Sache um die materielle Welt zu verstehen, aber es dauert Zeit. Es bedarf Debatten und Diskussionen. Das Problem ist dabei nicht so sehr Wissenschaft: sondern wir haben einige hochrangige Bürokraten in die Position eines Papsts erhoben«, Jay Bhattacharya

»Wenn Kritiker ihre Kugeln auf Tony Fauci abfeuern, dann erkenne die Menschen, da ist eine Person. So ist es einfach zu kritisieren, aber sie kritisieren tatsächlich Wissenschaft. Denn ich repräsentiere Wissenschaft.«, Dr. Anthony Fauci

Ist Fauci Wissenschaft? Wer repräsentiert Wissenschaft? Was ist Wissenschaft, vor allem auch hinsichtlich der gesellschaftlichen und politischen Wirkung?


Sollten wir Wissenschaft nicht als ständigen Diskurs und Selbstreflexion auch mit einer wesentlichen historischen Dimension begreifen und behandeln? Wissenschaft nach Bourdieu als soziales System sehen?

"Wenn es darum geht, Menschenleben zu retten, mache ich keine Kompromisse.", Wolfgang Mückstein 

und

»Aber ich sage Ihnen auch ganz offen, dass der Maßstab nicht das ist, was wir glauben, was wir jetzt machen wollen, sondern der Maßstab ist, was uns die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu dem Thema sagen.«, Angela Merkel (2020)

Was bedeutet das? Wer entscheidet was der Maßstab ist. Welcher Wissenschafter ist überhaupt in der Lage eine relevante Aussage in einer komplexen Systemlage zu geben?


Haben wir — besonders deutlich in der Covid-Krise —Entkontextualisierung und Enthhistorisierung sowie eine deutliche Verengung von Diskurs erlebt? Mit welchen Folgen? Der Mediziner Martin Sprenger spricht von einem virologischen Tunnelblick.


Aber das Problem ist nicht alleine auf den vermeintlichen Extremfall Covid begrenzt. In Deutschland wurde etwa eine Meldestelle für ideologische Abweichung eingerichtet. Dies könnte man als deutliches Beispiel für den Versuch einer autoritären Verengung des Diskurses und Zensur, sehen. Aber auch Framing ist ein wichtiges Mittel der Verzerrung medialer Diskurse Beispiel Ivermectin — haben Joe Rogan und zahlreiche andere Prominente »Pferdewurmmittel« genommen — oder ist das ein Framing um den Diskurs zu vermeiden und sie lächerlich zu machen?


Was ist vom Begriff der »Verschwörungstheorie« zu halten? Natürlich gibt es solche, aber wurde der Begriff möglicherweise inflationär, gar als Kampfbegriff verwendet? In zahlreichen Medienkommentaren erleben wir einen stärker werdenden Paternalismus. Wir wissen, was gut für euch ist — Narrative treiben die Berichterstattung und teilen die Bevölkerung sowie die Ansichten in »Gut« und »Böse« ein.


Vielen scheint es schwer zu fallen zu sehen, dass auch gegensätzlich scheinende Dinge gleichzeitig zutreffen können: Pfizer hat sich einerseits äußerst fragwürdiger Praktiken bedient und wurde dafür in den USA zur höchsten Strafe verurteilt, die das Justizministerium je verhängt hat und kann gleichzeitig auch lebenswichtige Pharmazeutika produzieren. Kritisches Hinterfragen von Großunternehmen wie Pfizer ist dringen notwendig, ohne gleich das Kind mit dem Bad ausschütten zu müssen.


Auch die Frage, ob Forschung einen immer stärker ideologischen Einschlag hat, im besonderen bei politisch wesentlichen Fragestellungen, darf kein Tabuthema sein. Zu viel hängt von den Ergebnissen der Forschung ab, und zahlreiche Untersuchungen zeigen, dass die Qualität der Forschung in verschiedener Disziplinen sehr schlecht ist.


Wissenschafter selbst sind wie alle Menschen vielschichtig. Sie können in einer Sache recht und in anderen völlig unrecht haben. Billiges canceln (siehe z.B. David Hume) ist infantil und nicht zielführend. Ein genauer Blick immer notwendig und nicht nur ein blinder Fokus auf das Jetzt und das Ich und die eigene Meinung. Auf die Pandemie gemünzt hat Johannes Lehmann vom »Bann der pandemischen Gegenwart« gesprochen.


Zahlreiche Paradoxien tauchen auf und wir diskutieren einige beispielhaft. Aber auch die Wirkmacht der Krise als politisches Mittel wird Thema; Giorgio Agampen spricht vom Ausnahmezustand als politischem Instrument beziehungsweise Herrschaftsmittel, Naomi Klein hat schon vor vielen Jahren vor einer »Schock Doktrin« gewarnt.


Wir erleben das regelmäßig bei heutigen Aktivisten: Aufgrund der Krise X gibt es angeblich gar keine Zeit mehr für Widerspruch, für Diskurs! Demokratie ist ein Hindernis und wir sollten alleine den Aktivisten folgen. Ist das eine gute Idee? 

»Die Sprache der Öffentlichkeit ist eskaliert und gleichzeitig hat sich der Diskurs verengt.«

Wir nennen Beispiele für diese Eskalation und Radikalisierung in ehemals linksliberalen Medien wie etwa dem Standard oder dem Falter in Österreich, der Zeit in Deutschland.

»Ich wünsche mir einen totalen und vernichtenden Sieg für die Ukraine«, Eva Illousz, die Zeit

klingt bedrückend ähnlich zu

»Glaubt ihr mit dem Führer und mit uns an den endgültigen, totalen Sieg der deutschen Waffen?«, Joseph Goebbels, Sportpalast Rede (1943)

Und dies sind keine Einzelfälle. Sarah Bosetti etwa entgleist und vergleicht Menschen mit einem Blinddarm der entfernt werden kann.


Wie hängt das alles mit der immer stärker werdenden Identitätspolitik zusammen? Definiert Identität Freibrief von Sprache und Handlung? Sind etablierte Prinzipien eines Rechtsstaat nichts mehr wert, wenn ich nur die richtige Identität behaupte?


Wir haben erheblichenSchaden an wesentlichen gesellschaftlichen Strukturen angerichtet, und dies gepaart mit einem Vertrauensverlust. Waren dies unvermeidbare Fehler oder eher Ungeschicklichkeit und Überheblichkeit von Eliten, die ihre eigenen Fähigkeiten bei weitem überschätzt haben. Ist Paternalismus und moralische Überhöhung in Ordnung um die Bevölkerung nicht zu verwirren, oder zerstört das den Zusammenhalt in einer modernen Gesllschaft?

“The trust we have in each other and in our institutions is a measure of social health around the world.”, Todd Rose

Die Kompetenz heutiger (wissenschaftlicher) Eliten waren ebenfalls in früheren Episoden ein Thema. So gibt eine Asymmetrie des Vertrauens (in Medien und Menschen): nicht der Durchschnitt zählt, sondern der Ausreißer, der »Betrug«. 

»Komplexe Themen brauchen komplexe Diskussionen«

Entgegen der heutigen Schlagwort-Diversität am Oberflächlichen orientiert, gibt es tatsächlich in Institutionen und an Unis immer weniger relevante Diversität, das heißt intellektuelle Diversität — Unterschiede in Meinung und Weltanschauung.


Bei komplexen Fragestellungen können einzelne Personen nie »die Wahrheit« finden. Das bedeutet, der Diskurs muss im Zentrum stehen. Aber wie können wir konstruktiven Diskurs von Ablenkung durch Esoterik und Pseudowissenschaft unterscheiden?


Brauchen wir eine zweite Aufklärung, und wie könnte diese Aussehen?


Umsetzung komplexer Maßnahmen erfordert Vertrauen und Legitimation durch große Teile der Bevölkerung. Paternalistisch und autoritär verordnete Ideen führen spätestens mittelfristig zu starken Gegenreaktionen, die das möglicherweise richtige Ziel erst recht beschädigen. Wie damit umgehen?


Referenzen


Andere Episoden


Episode 11: Ethik, oder: Warum wir Wissenschaft nicht den Wissenschaftern überlassen sollten!

Episode 13: (Pseudo)wissenschaft? Welcher Aussage können wir trauen? Teil 1

Episode 14: (Pseudo)wissenschaft? Welcher Aussage können wir trauen? Teil 2

Episode 25: Entscheiden unter Unsicherheit

Episode 29: Fakten oder Geschichten? Wie gestalten wir die Zukunft?

Episode 32: Überleben in der Datenflut – oder: warum das Buch wichtiger ist als je zuvor

Episode 38: Eliten, ein Gespräch mit Prof. Michael Hartmann

Episode 39: Follow the Science?

Episode 47: Große Worte

Episode 57: Konservativ UND Progressiv

Episode 67: Wissenschaft, Hype und Realität — ein Gespräch mit Stephan Schleim

Jan David Zimmermann


Homepage
Facebook: Jan D. Zimmermann
Instagram:  j._zimmermann
Buch: Lethe. Vom Vergessen des Totalitären (Webseite, Amazon)

Fachliche Referenzen


Interview mit Rossana Segretto, Tiroler Tageszeitung (2021)
Drosten und Fauci: Das Versagen von Wissenschaft und Ethik, Cicero (2023)
Peter Daszak, Christian Drosten et al, Statement in support of the scientists, public health professionals, and medical professionals of China combatting COVID-19, The Lancet (March 2020)
Tony Fauci:
Fox News 1
Fox News 2
CBN News
Jacqueline Howard, Dr. Anthony Fauci says publicly released email about lab leak is being misconstrued, CNN (2021)
Fauci representing science: Megyn Kelly (2022)
Former CDC Director Redfield at hearing
Megan K. Stack, Dr. Fauci Could Have Said a Lot More, New York Times Opinion (2023)

Wiesendanger-Studie, Uni Hamburg (2021)
Jan David Zimmermann, Frankensteins Erbe, Wissenschaft zwischen Gut und Böse, Cicero (2022)
Todd Rose, Collective Illusions: Conformity, Complicity and the Science of Why We Make Bad Decisions, Hachette (2023)
Wolfgang Mückstein Zitat, Kleine Zeitung (2021)
Angela Merkel, Pressekonferenz (2020)
Jay Bhattacharya im Triggernometry Podcast (2023)
Meldestelle Antifeminismus (Deutschland): Nele Pollatschek, Vielleicht sind wir kollektiv ein bisschen drüber, Süddeutsche Zeitung (2023) 
Der totale Sieg
Eva Illousz, die Zeit 16.2.2023 (Print); 18.2.2023 (online)
Joseph Goebbels, Sportpalastrede (Wikipedia)
Jan David Zimmermann über den Illousz Kommentar: Der Wunsch nach dem totalen Sieg, Stichpunkt (2023)

Christoph Zielinski,  Warum diese Angriffe auf die Wissenschaft? Der Standard (2023)
Sarah Bosetti »Blinddarm« Tweet (2021)
Sweden, Covid and 'excess deaths': a look at the data, Spectator (2023)
John Tierney, COVID-19, Lessons we should have learned (2022)
Great Barrington Declaration
Bret Stephens, The Mask Mandates Did Nothing. Will Any Lessons Be Learned?, NYT (2023), und der Cochrane Bericht
Long Covid, Masks, Equipoise, RCTs, Lockdown & More, ID Ethicist
Lab Leak Hypothesis:
Matt Ridley, Alina Chan, Viral: The Search for the Origin of Covid-19, Fourth Estate (2021)
Matt Ridley, Alina Chan im Gespräch mit Sam Harris: Did SARS-CoV-2 Escape from a Lab? (2023)

Klimawandel
Roger Pielke Jr., What the media won't tell you about . . . hurricanes
Roger Pielke Jr., What the media won't tell you about . . . Drought in Western and Central Europe
Paul S. Kench et al, Patterns of island change and persistence offer alternate adaptation pathways for atoll nations, Nature (2018)
Thomas Stocker (Vorsitzender des fünften UN-Klimareports) über Kipppunkte und Klima-Berichterstattung: "Eigentlich brauchen wir die Drohkulisse der Kipppunkte nicht", Die Zeit (2022)

Justice Department Announces Largest Health Care Fraud Settlement in Its History — Pfizer to Pay $2.3 Billion for Fraudulent Marketing (2009) 
ORF Artikel über »geringe psychische Folgen der Pandemie« (2023) 
Pierre Bourdieu, Homo Academicus, Suhrkamp (1992)
Johannes F. Lehmann, Aus dem pandemischen Jetzt (2022)
CNN Business, FDA on Ivermectin “You are not a horse, you are not a cow” (2021)
Joe Rogan und Sanjay Gupta über CNN / Ivermectin
Kenan Malik, David Hume was a complex man. Erasing his name is too simplistic a gesture, The Guardian (2020)
Giorgio Agampen, An welchem Punkt stehen wir?: Die Epidemie als Politik, Turia + Kant (2021)
Naomi Klein, The Shock Doctrine, Penguin (2008)

Twitter Mentions