Warum fällt mir Vergebung schwer? Weil ich Unrecht erlitten habe. Und weil Unrecht nicht sein soll. Und weil da jemand ist, der etwas dafür kann, der die Verantwortung dafür trägt, der mir Wiedergutmachung schuldet.


Das mag sich Petrus gedacht haben, als er Jesus fragt, wie oft er eigentlich seinem Bruder vergeben muss.


Es ist kein Wunder, dass Vergebung mir schwer fällt. Denn Vergebung bedeutet, eine Schuld zu erlassen, die nicht beglichen wurde und vielleicht auch gar nicht mehr beglichen werden kann.


Wenn ich über meine Beziehung zu Menschen nachdenke, die mir gegenüber schuldig geworden sind, dann habe ich zwei Rollen.


Auf der Ebene der Tat bin ich das Opfer und der Andere ist der Täter. Auf der Ebene der Schuld jedoch bin ich der Gläubiger und der Andere der Schuldner. Auf der Ebene der Tat war ich unterlegen. Auf der Ebene der Schuld bin ich überlegen. Ich habe einen Anspruch gegen den Anderen. Er steht in meiner Schuld.


Meine Gefahr besteht darin, mich in beiden Rollen einzurichten:


In der Rolle des Opfers, das sich beleidigt zurückzieht, nicht mehr gut vom Anderen denkt und auch nicht mehr gut von sich selbst. Das die Begegnung vermeidet und sich selbst ungefähr so leid tut, wie das Opfer es eigentlich vom Täter erwarten würde.


Und in der Rolle des Gläubigers, der Macht über den Schuldner hat, den er vor dem Tribunal der Gerechtigkeit in der Hand hat. Vor allem dann, wenn dieser den Schaden nicht mehr gut machen kann und seine Schuld unbezahlbar ist.


Es lebt und herrscht sich ganz gut in der Opferburg, in der ich mich unerreichbar gemacht habe für die, die an meine Tür klopfen und um Vergebung bitten – oder auch nur aus der Ferne Versöhnung wünschen. Solange ich nicht vergebe, bin ich mächtig. Soll der Andere doch kommen… Oder sehen, wo er bleibt, der Schuft, mit seiner elenden, verdammten Schuld…


Aber je länger ich mich eingerichtet habe in der Opferburg, um so schmerzlicher geht mir auf, was für ein elender Burgherr ich dort bin. Ich bin eingesperrt. Ich kann nicht raus, ohne Angst zu haben, wieder und wieder Opfer zu werden.


Wenn es gut geht und ich nicht völlig in Anspruch genommen bin von Wut, Bitterkeit und Angst gegenüber meinen Schuldigern, fallen mir in der Einsamkeit meiner Opferburg dann irgendwann auch die ein, denen gegenüber ich schuldig geworden bin. Und nicht selten sind das dieselben Leute wie die, die mir gegenüber schuldig geworden sind. Vor allem da, wo einer von uns die Ungerechtigkeit des Anderen mit Ungerechtigkeit beantwortet hat.


Und auch denen gegenüber habe ich zwei Rollen – nur umgekehrt. Ich bin Täter der Tat und Schuldner der Schuld. – Und beides will ich nicht bleiben.


Aber ich will auch nicht wieder verletzt werden. Und ich will mir nicht die Blöße geben, zuzugeben, dass ich nicht nur Opfer, sondern auch Täter, nicht nur Gläubiger, sondern auch Schuldner bin. Was nun?


Im Gleichnis Jesu erlässt ein König seinem Beamten eine schier unbezahlbare Schuld. Dieser aber hält unerbittlich an der sehr viel geringeren Schuld seines Kollegen fest. Offenbar hat er die Vergebung nicht wirklich angenommen, die ihn seinerseits zur Vergebung befähigt hätte. Er wollte keine Vergebung. Weder für sich noch für seinen Nächsten.


Die irdische Lebensgeschichte Jesu endet mit seinem Leiden und Sterben am Kreuz. Und hier verbindet Er sich mit allen Opfern, die unschuldig leiden, und mit allen Tätern, denen eigentlich all das widerfahren müsste, was sie anderen angetan haben.


Jesus Christus ist in meine Opferburg gekommen. Als der, der mir vergeben und wegtragen will, was ich anderen angetan habe. Das will ich erbitten und zulassen. Und dann wird Er mir auch zu dem göttlichen Freund, der mit mir aus der Opferburg auszieht und denen vergibt, die – wie ich – Vergebung und einen Neuanfang nötig haben, wenn das Leben gut werden soll.


Fra' Georg Lengerke