Die erste Oktoberwoche verbrachten wir eine Ferienwoche in den Bergen über Beirut mit psychisch kranken Frauen. Da wussten wir noch nicht, dass es einstweilen die letzte sein wird.


Viele der Frauen sprechen Französisch oder Englisch oder beides, einige haben studiert. Eine hat ein Buch geschrieben. Bei entsprechender medizinischer und freundschaftlicher Unterstützung würde eine Reihe von ihnen auch alleine oder in Wohngruppen leben können. Hier in Libanon jedoch sind sie alle in einer großen Einrichtung, deren Träger große Mühe haben, einen medizinischen und humanitären Mindeststandard aufrechtzuerhalten. Ihre Situation ist prekär. Sie schlafen in Neunerzimmern, es gibt praktisch keine Privatsphäre. Eine Frau erzählt, die wohlhabende Familie ihrer Schwester habe sie einweisen lassen, weil sie dort nicht tragbar sei. „Aber sie lieben ihre Hunde“, erzählt sie, „für die würden sie alles tun.“ Und nach einer Pause: „Ich wünschte, ich wäre ein Hund. Dann würden sie mich auch lieben und ich hätte ein Zuhause.“


In der Kapelle des dortigen Hauses der Malteser steht seit diesem Sommer eine Holzfigur des Bonner Künstlers und Diakons Ralf Knoblauch. Knoblauchs Skulpturen sind sehr einfache Figuren. Als hätte ein Kind sie gemacht. Vielen sieht man die kantige Form des Holzscheits noch an, aus dem sie geschnitzt wurden. Unsere hat eine Jeans und ein weißes T-Shirt an – und eine goldene Krone auf dem Kopf. Es ist ein König in Alltagskleidung. Ralf Knoblauch hat mittlerweile hunderte von Figuren geschaffen – Königinnen und Könige. Jeden Morgen eine. Sie stehen an Orten, an denen die Würde des Menschen verletzt oder vergessen oder ausdrücklich in den Fokus ihrer Mitmenschen genommen wird.


In der Heiligen Messe am letzten Morgen der Ferienwoche lesen wir die Lesungen und beten die Gebete vom Christkönigsfest, das wir heute feiern. Es handelt von jenem König, der in die Welt kommt und von der Welt nicht erkannt, sondern verkannt, nicht geehrt, sondern verworfen wird. Von jenem König, der sein Königtum nicht von Menschen hat, sondern ganz „von Gottes Gnaden“ ist. Von jenem König, der seine Königswürde nicht für sich behält, sondern allen mitteilt und in allen zum Vorschein bringt – auch in den Verkannten, Verworfenen und Weggesperrten. Dort wohnt er, als König eines Volkes von Königen und Königinnen. Dort will er sich finden lassen, wenn er sagt, was wir einem der Geringsten seiner Schwestern und Brüdern getan haben, das haben wir ihm getan.


Nach der Predigt nimmt jede Frau, die das will, den hölzernen König in die Hand und sagt: „Ana malaki! – Ich bin eine Königin!“ Manchen kommt das Wort nur schwer über die Lippen. Den einen ist das Wort zu groß. Den anderen scheint es zu einfach dahergesagt. Eine sagt: „Christus ist König…“ und nach einer Pause: „…und ich bin eine Königin!“ Eine andere schweigt eine Weile und sagt leise: „Mit Bescheidenheit und Stolz: Ich bin eine Königin!“ Eine andere strahlt und wartet darauf, aufstehen und sagen zu dürfen: „Wegen der Liebe Gottes zu mir bin ich eine Königin!“


Dann kommt die Frau an die Reihe, die sich vorgestellt hat, wie es wäre, ein Hund zu sein, um bei ihrer Schwester wohnen zu dürfen und geliebt zu werden. „Ich selbst kann es noch nicht glauben, aber Gott sagt mir: Ana malaki – Ich bin eine Königin."


Am folgenden Tag, dem 7. Oktober, beginnt von neuem ein Krieg im Heiligen Land. Hunderte Kinder, Frauen und Männer sterben schon in den ersten Stunden. Jeder Tod ist ein Königsmord und eine Selbstentwürdigung der Mörder.


Nun werden wir einander eine Weile nicht sehen können. Aber uns verbindet, dass wir miteinander Anteil haben an der Würde, die von Gott kommt. Und wir wollen Tag für Tag so leben, dass wir Gott und einander glauben, dass wir alle königliche Menschen sind.


Fra' Georg Lengerke